Aktuelles

Verdienen deutsche Behörden bis heute an der Judenverfolgung in der Nazizeit?

Ein Offener Brief an den Präsidenten des Landesarchiv Baden-Württemberg Prof. Dr. Gerald Maier

von Ulrich W. Sahm

 

Sehr geehrter Herr Professor Maier

Den aktuellen Pressemitteilungen des Landesarchivs Baden-Württemberg kann man entnehmen, dass jetzt „das erste Pilotprojekt im Rahmen der Transformation der Wiedergutmachung“ auf den Weg gebracht“ wurde.

Wörtlich steht dort: 

„Die Wiedergutmachung als Teil der Aufarbeitung des Unrechtssystems der Nazizeit war ein wichtiger Baustein für die junge Demokratie in Deutschland nach 1945». In der Tat werden die Bereitschaft und die Art, sich mit dem NS-Erbe auseinanderzusetzen, weltweit als wichtiges Beispiel dafür gesehen, wie von Diktaturen beherrschte Gesellschaften den Weg zur Demokratie finden können. In Deutschland ist das in Millionen von Akten dokumentiert. Die sind verteilt in den Archiven von Bund und Ländern gesichert. «Mit dem Projekt wird nun ein erstmals ein zentraler, digitaler Zugang geschaffen, den Betroffene und ihre Nachkommen, die Forschung und die Öffentlichkeit nutzen können», so Eva Maria Meyer, die im Bundesministerium der Finanzen mit ihrem Team das Projekt auf den Weg gebracht hat.“

Soweit die Pressemitteilung aus Ihrem Hause. Diese Millionen von Akten, von denen hier die Rede ist, betreffen aber ganz konkrete Menschen. Menschen, deren Verwandte zum Teil in der ganzen Welt verstreut sind. Haben Sie, oder die Mitarbeiter des deutschen Finanzministeriums sich jemals Gedanken darüber gemacht, was die Kenntnis dieser Unterlagen vielleicht auch für die Nachfahren der Betroffenen bedeutet?

Ida L. als junge Frau. (Foto zVg)Vor wenigen Wochen erreichte mich ein Hilferuf der Enkelin von Ida L., einer jüdischen Frau aus Stuttgart. Weit über ein Jahr, vom Januar 1944 bis zur Kapitulation Nazideutschlands, hatte Ida L. im KZ Theresienstadt verbracht. Von dort kam sie wieder zurück nach Stuttgart. Ida entstammte der bekannten jüdisch- sephardischen Familie Caro aus Gleiwitz. Ihr Vater Oscar Caro und ihr Onkel Georg riefen 1910 in Breslau die »Deutsche Eisenhandels AG« ins Leben, die mehrere Eisenhandelsfirmen aus Breslau und die Berliner Eisenfirma von Jacob Ravené zusammenführte. Darüber hinaus gehörten dem Caro-Konzern über vierzig Tochterunternehmungen in ganz Deutschland an. Um die Familie ihres ebenfalls durch Lagerhaft geschädigten Sohnes nach dessen Tod zu unterstützen, führte Ida L. einen langen Prozess mit der Wiedergutmachungsstelle. Erst kurz nach dem Tod von Ida L. wurde das Verfahren am Oberlandesgericht Stuttgart zu Gunsten der Opfer entschieden. Jene Enkelin nun hatte sich vor einiger Zeit auf Spurensuche begeben, um mehr über ihre Verwandten zu erfahren. Sie war dazu in den vergangenen Jahren in meiner Begleitung auch mehrmals in Yad Vashem in Jerusalem. Auf Umwegen erfuhr sie jetzt im Frühjahr, dass es im Landesarchiv in Baden-Württemberg noch Material zu ihrer Familie gibt. Auf ihre Anfrage nach Akteneinsicht erhielt sie die Antwort, dass man sich leider auf Grund der geltenden Gebührenordnung gezwungen sähe, für die digitale Zusendung Gebühren in Höhe von 249,50 Euro zu erheben, denn man sei „an die Landesarchivgebührenordnung gebunden. Diese sieht für Papierkopien und Scans in einfacher Qualität 0,50 Euro pro Stück vor.“ Die Rechnung verstand sich inklusive einer „digitalen Übermittlungsgebühr von 5 Euro“. Die Enkelin wollte nun ihre lange Recherche nicht kurz vor dem Ziel beenden, war aber, bedingt durch die Corona- Situation, arbeitslos geworden und sah sich deshalb ausserstande, die Kosten zu begleichen. Deshalb habe ich ihr die Gebühr privat vorgestreckt. Später beteiligten sich dann noch an der Zahlung zwei Urenkelinnen von Ida L., die in Südamerika aufgewachsen waren.

Der Vorgang wirft Fragen auf.

Seit rund 50 Jahren arbeite ich nun als Journalist in Jerusalem. Bei vielen Besuchen in Yad Vashem, oft auch in Begleitung von Holocaustüberlebenden, bei hunderten eigenen Recherchen oder Nachfragen habe ich niemals erlebt, dass man sich dort irgendwelche Leistungen hätte bezahlen lassen. Geschweige denn, dass man dort Gebühren erhebt, wenn jemand seine Verwandten sucht. So ein Vorgang wäre in Israel wohl undenkbar. Dass nun ausgerechnet in Deutschland Nachfahren deutscher Juden für Informationen zu ihren toten Verwandten Geld zahlen müssen, ist für mich unfassbar.

Zudem wird hier in Jerusalem seit Jahren alles digital erfasst. Dass es nun in dem doch wohl technisch einigermassen entwickelten deutschen Musterland Baden-Württemberg tatsächlich erstmals zu diesem Zweck ein „digitales Pilotprojekt“ geben soll, kann man nur staunend zur Kenntnis nehmen.

Weiter heisst es, dass im Landesarchiv „ein zentraler, digitaler Zugang geschaffen wird, den Betroffene und ihre Nachkommen, die Forschung und die Öffentlichkeit nutzen können“. Da ist kein Wort darüber zu lesen, dass bis es heute keinen gebührenfreien Online-Zugang zum Archiv gibt und dass nach wie vor selbst Verwandte von Holocaustüberlebenden in Deutschland für Informationen zahlen müssen. Die KZ gibt es nicht mehr, aber Deutschland verdient bis heute an den Judenverfolgungen der Nazizeit. Deshalb meine Frage an Sie: Wenn jetzt alles neu gestaltet wird, ist dann auch geplant, gemeinsam mit dem Bundesministerium für Finanzen, die Gebührenordnung entsprechend zu „transformieren“ – oder sollen auch künftig in Deutschland KZ-Häftlinge und deren Nachkommen für jedes einzelne kopierte Blatt zur Kasse gebeten werden, wenn sie etwas über das Schicksal ihrer Verwandten erfahren wollen?

Mit freundlichem Gruss

Ulrich Wilhelm Sahm

 

Nachtrag: 

Das Amt des Landesarchivs Baden-Würtemberg reagierte unverzüglich und versprach sogar eine Änderung der derzeitigen Gebührenordnung:

Eine Sprecherin antwortete schriftlich: Im Landesarchiv Baden-Württemberg ist es in Vorgängen wie dem, den Sie in Ihrem offenen Brief aufgegriffen haben, seit Jahren bewährte Praxis, angemessene Lösungen zu finden und auch auf eine Gebührenerhebung zu verzichten. Im konkreten Fall haben wir von der finanziellen Problemlage von Frau L. erst nach der Abwicklung des Kopierauftrags erfahren. Da sie in ihrer Mail vom 2. Juli 2020 eine Kostenübernahme „selbstverständlich“ zusagte, war der Auftrag im normalen Verfahren regulär abgewickelt worden. Wir werden die gezahlten Gebühren zurückerstatten.“ Das ist inzwischen geschehen. 

Weiter heißt es in dem Brief des Archivs: „Ob es, wie Frau L. und Sie vorschlagen, zu einer generellen Lösung der Gebührenfrage für Opfer der Shoa auf Bundesebene kommen wird, können wir nicht abschätzen. Ausgehend von unserer oben geschilderten Praxis würden wir einen solchen Schritt unterstützen. Gerne informieren wir Sie über das aktuell gestartete Projekt eines zentralen digitalen Zugangs zu diesem Themenbereich.“

 

(C) Ulrich W. Sahm

 

 

Ulrich W. Sahm, Sohn eines deutschen Diplomaten, belegte nach erfolgtem Hochschulabschluss in ev. Theologie, Judaistik und Linguistik in Deutschland noch ein Studium der Hebräischen Literatur an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seit 1975 ist Ulrich Sahm Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Medien und berichtet direkt aus Jerusalem.