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| Ulrich W. Sahm, Jerusalem

Gedanken zur Entführung

Ein Verbrecher, auf frischer Tat von der Polizei ertappt und gefilmt, gilt bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung als „unschuldig“. Würde man dieses Prinzip auch bei „Feindstaaten“, der Mafia oder gar Terrororganisationen konsequent anwenden, gäbe es keine Prävention von Anschlägen oder militärischen Übungen zur Verhinderung von Überraschungsangriffen.

Für Israel gibt es viele gute Gründe, die Hamas wegen der Entführung der Talmudschüler Naphtali Fraenkel, Gil-Ad Shaer und Eyal Yifrach aus Kfar Etzion zu verdächtigen. Hamas-Politschef Khaled Maschal hatte wenige Tage vor jenem Donnerstag vor fast zwei Wochen zur Entführung von Israelis aufgerufen, um Häftlinge aus israelischen Gefängnissen freizupressen. Damit bekundete er die Bereitschaft seiner Organisation zu einem Verbrechen mit politischem Motiv.

Hinzu kommt, dass die Hamas diese „Kampfmethode“ schon mehrfach angewandt hat, zuletzt mit dem Soldaten Gilad Schalit. Der saß fünf Jahre lang in Geiselhaft im Gazastreifen und ist am Ende im Tausch für 1027 Massenmörder mit lebenslangen Haftstrafen und anderen verurteilten Verbrechern ausgetauscht worden. Der israelische Geheimdienst hat zudem im Laufe des vergangenen Jahres über 60 Entführungsversuche der Hamas vereitelt. Für Israel war die Entführung keine Überraschung und für Hamas-Anhänger in Hebron wie im Gazastreifen war es ein Anlass zu öffentlichen Feiern mit Süßigkeiten und Freudenschüssen.

Die Hamas kennt jüdische Mentalität und israelisches Selbstverständnis besser als die Europäer. So weiß sie genau, wie sie die Israelis an ihrem wundesten Punkt treffen kann. Einen Juden/Israeli umzubringen ist weniger folgenreich als eine Entführung. Denn gegen vollendete Tatsachen kann man nichts unternehmen. Doch im Falle einer Entführung besteht Hoffnung, die Geisel lebend zu befreien. Zudem gibt es eine alte jüdische Tradition, fast jeden denkbaren Preis zu zahlen, um Gefangene auszulösen. Genauso kannte die Hamas aber auch das Risiko einer schmerzhaften israelischen Reaktion.

Hinzu kommt ein Phänomen, das Mitteleuropäern inzwischen völlig fremd ist: Die Namen von Tätern, Opfern und sogar in Afghanistan gefallener Soldaten werden anonymisiert. Mit einem T. oder R. aus S. kann man kein Mitgefühl empfinden. Anders in Israel. Da gibt es keinen „Schutz der Privatsphäre“. Wenige Stunden nach der Entführung waren Namen, Fotos und Details der Entführten veröffentlicht. Die Eltern traten stündlich vor die Fernsehkameras. Zehntausende folgten ihrem emotionalen Ruf zu einem gemeinsamen Gebet an der Klagemauer.

Kein Wunder, dass „jeder“ Israeli Empathie entwickelt und die entführten „Jungs“ wie „seine eigenen Kinder“ sieht. Wütend reagierten nicht nur Politiker, als die arabische Abgeordnete Chanin Zoabi spitz behauptete, dass die Entführer keine „Terroristen“ seien. Das war ein „Überschreiten roter Linien“, weder durch „Meinungsfreiheit“ noch durch parlamentarische Immunität gedeckt. Auch im Krieg gebe es Verbrechen, die nicht geduldet sind, darunter die Entführung von Kindern oder Mord an Zivilisten.

Die drei Jugendlichen wurden im „C-Gebiet“ des Westjordanlandes entführt, wo die palästinensische Polizei keinen Zugang habe. Deshalb könne es die Hamas nicht gewesen sein. Diese absurde Behauptung kam von Hamas-Sprechern, vom dem deutschen Bundestagsabgeordneten Gregor Gysi von der Partei „Die Linke“ während seines Besuches in Israel und von Korrespondenten der TAZ und des Spiegel. Gemäß dieser Logik können wohl nur Amerikaner den Anschlag von 9/11 verübt haben, weil New York in den USA liegt, und nur Israelis können sich während der 2. Intifada als Selbstmordattentäter in Bussen und Restaurants in Tel Aviv, Haifa und Jerusalem gesprengt haben.

Im Spiegel hieß es, dass die Entführung dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu „zupass“ gekommen sei. Das klingt, als hätte er sie selber befohlen für einen „Vorwand“, um gegen die Hamas loszuschlagen. Spiegel-Autorin Julia Amalia Heyer scheint die Hamas-Charta verinnerlicht zu haben, in der es heißt, dass „die Juden“ den Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie den Holocaust ausgelöst hätten, um danach die Hand aufzuhalten und sich auszahlen zu lassen.

Völlig absurd ist auch ihre Behauptung: „Nach innen kann er sich jetzt endlich wieder als der Hardliner präsentieren, als der er seit Jahren gewählt wird.“ Die Mehrheit der Israelis hat ihn aus vielen Gründen gewählt, gewiss aber nicht, weil der Spiegel ihn für einen „Hardliner“ hält.

Die üblichen Menschenrechtsorganisation, wie Amnesty International, Betselem, Breaking the Silence („Schweigen brechen“) und andere, haben in einem offenen Brief die israelische Regierung einer „Kollektivbestrafung“ der Palästinenser bezichtigt, anstatt die Hamas oder Mitwisser aufzufordern, die Geiselnahme durch Hinweise an die Israelis zu beenden. Denn der Terror, der jeden einzelnen Israeli in Angst versetzt, ist genauso eine Kollektivbestrafung.

Die Palästinenser sind keineswegs nur Opfer und willenloser Spielball in den Händen der israelischen Besatzer. Vielmehr haben sie einst (2006) mit großer Mehrheit die Hamas in ihr Parlament gewählt. Die Hamas genießt eine breite Unterstützung, besonders in der Gegend von Hebron. Sie hat zu der Entführung angestiftet, ohne Widerspruch aus den Reihen ihrer Anhänger. Niemand hat die Täter gezwungen, dieses Verbrechen zu begehen. Gleiches gilt für die „Versöhnung“ und die „Einheitsregierung“ von Fatah- und Hamas. Die Palästinenser haben Beschlüsse gefasst, wofür sie nun die Zeche zahlen, genauso wie allein die Israelis die Folgen der Politik ihrer gewählten Repräsentanten im Guten wie im Schlechten mittragen müssen.

Medienarbeit / Presse