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Pessach im Schatten des Virus

Am Mittwoch beginnt das achttägige Pessach-Fest zum Gedenken an den Auszug aus Ägypten in biblischer Zeit. Es ist eine der wichtigsten Feiern des Judentums. Doch wegen der extremen Ansteckungsgefahr durch das Corona-Virus mussten in Israel viele geliebte Sitten und Bräuche dieses traditionsreichen Festes verboten werden. Anstatt die ganze Großfamilie um einen üppig gedeckten Tisch zu versammeln, dürfen in diesem Jahr nicht einmal die Großeltern teilnehmen, geschweige denn weitere verwandte und Gäste. Gefeiert soll nur im kleinsten Kreis der Kernfamilie: Eltern und ihre Kinder. Es heißt zwar, dass ausreichend Matzot (ungesäuerte Brote) hergestellt wurden, damit es nicht an der wichtigsten kulinarischen Zutat fehlen möge. Dieses ungesäuertes Brot steht für die Eile, in der das Volk aus Ägypten geflohen ist, so dass sie nicht einmal den Brotteig säuern konnten Doch bei anderen Festspeisen herrscht akuter Mangel. Insbesondere an Eiern, die genau wie für die Christen zu Ostern auf keiner Festtafel fehlen dürfen. Denn eine der Festspeisen ist Beitzah, ein gekochtes Ei, das am Sederabend auf die Festtafel gehört. Es steht für die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens und für die Trauer um den zerstörten Jerusalemer Tempel. Der Sederabend findet am 14. Nisan statt und ist der Vorabend und Auftakt von Pessach. Wegen Hamsterkäufen sind die Regale für Eier leergefegt, obgleich Israels Hühner eigentlich ihr tägliches Ei im Überfluss legen. Millionen Eier aus Spanien und der Ukraine sollten nun nach Israel gebracht werden. In Spanien wurden die Eier auf ein Schiff geladen, das zunächst mehrere Häfen im Mittelmeer anlaufen sollte. Große Aufregung, als man feststellte, dass es deshalb erst genau einen Tag nach Ende des Festes in Israel anlegen könnte. Dank diplomatischer Bemühungen nahm es dann doch direkten Kurs nach Israel auf und nun hoffen alle, dass es noch rechtzeitig ankommt. Aber auch andere Sitten wurden auf Befehl der Regierung, des Gesundheitsministeriums und der Rabbiner abgesagt. So ist es verboten, das Geschirr an öffentlichen Stellen in riesige Bottiche mit kochendem Wasser eintauchen zu lassen und so zu „koschern“. Es darf nicht das normale Geschirr und Besteck verwendet werden, mit dem sonst auch Brot genossen wird, da kein Krümel des gesäuerten Brotes zu Pessach im Haus sein darf. Um sich an die religiösen Vorschriften zu halten, empfehlen die Rabbiner nun die Verwendung von Einweggeschirr. Das mag den Umweltschützern Sorgen bereiten, aber die biblischen Gesetze haben Vorrang. Problematisch ist auch der traditionelle Hausputz. Es gilt, die letzten Brotreste zu finden, um sie dann in aller Öffentlichkeit im Beisein von allen Kindern der Nachbarschaft feierlich zu verbrennen. Doch sind in dieser Zeit jegliche Menschenansammlungen strikt verboten worden. Ein Rabbi Neriah empfahl im Rundfunk, alle Reste von Nudeln, Mehl und Hülsenfrüchten, die gären könnten, gut zu verpacken und auf dem Klo auszulagern. Ebenso sei es erlaubt, alles „Gesäuerte“ per Internet symbolisch zu verkaufen. Eingesammelte Brotkrümel könnten auch in die Toilette geworfen und mit der Wasserspülung „entsorgt“ werden.

 

Orte aus der Vergangenheit mitten in der Moderne

Für die meisten Israelis mag das alles kein großes Problem sein, da sie es mit der Religion ohnehin nicht so genau nehmen. Doch für viele Menschen in den Hochburgen orthodoxer Juden wie Mea Schearim in Jerusalem oder Bnei Brak bei Tel Aviv ist das Einhalten aller Regeln und Traditionen geradezu von existenzieller Bedeutung. Man sieht es schon an deren ungewöhnlicher Kleidung. Männer tragen einen schwarzen Filzhut auf dem Kopf, lassen sich die Schläfenhaare zu langen Zöpfen wachsen und tragen halblange schwarze Anzugsjacken, einen sogenannten Kaftan. Frauen hüllen sich in lange Gewänder und tragen turbanartige Aufbauten auf dem Kopf. Andere hüllen ihr abrasiertes Haupthaar in Kopftücher oder verstecken es unter Perücken. Es wirkt, als wäre die Zeit im Polen oder der Ukraine des 19. Jahrhunderts stehen geblieben, als es noch die jüdischen „Shtetl“ gab, die von den Nazis im Rahmen des Holocaust restlos ausgelöscht worden sind. Vor etwa 200 Jahren, als Reaktion auf die europäische Aufklärung, begannen die Ultraorthodoxen Juden in Osteuropa, sich immer mehr von der Außenwelt zu isolieren und nur noch ihre frommen Bücher zu studieren, die vor Jahrtausenden oder Jahrhunderten verfasst worden sind. In der heutigen modernen Welt mit den zahllosen Kommunikationsmitteln wirkt es befremdlich, wenn in den frommen Schulen weder Fremdsprachen noch Grundfächer wie Mathematik oder Biologie gelehrt werden. Radio und Fernsehen sind verpönt. Die Handys sind zensiert. Da gibt es keinen Zugang zum Internet oder zu weltlichen Informationen.
 

Die spät erkannte Katastrophe

Weil diese Menschen teilweise in großer Armut und auf engstem Raum in einer derart geschlossenen Welt leben, kann es auch nicht verwundern, dass der Corona-Virus gerade unter den Ultraorthodoxen besonders kräftig zuschlägt. Denn sie erfuhren zunächst nichts von den Vorschriften, 2 Meter Abstand zu halten, Gesichtsmasken zu tragen, die Verwandten zu meiden. Sie wollen wie immer in Gruppen von 10 Männern das gemeinsame Gebet sprechen und haben kein Verständnis dafür, dass die Polizei kommt und ihre Synagogen absperrt. Aus Sicht dieser frommen Menschen ist das eine echte Katastrophe, denn nicht nur das Virus selbst, sondern auch die notwendigen Gegenmaßnahmen wirken auf sie wie ein Anschlag auf ihr ganzes Leben. Selbst in den schlimmsten Lagern unter den Nazis hielten sie noch irgendwie an ihren Bräuchen fest, was ihnen jetzt ausgerechnet vom jüdischen Staat Israel verboten werden muss, um ihr Leben zu retten. In Bnei Brak bei Tel Aviv und im Jerusalemer Viertel Mea Schearim wütet das Virus schlimmer als an jedem anderen Ort in Israel. Sie sind zu Hochburgen der Corona-Pandemie geworden. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums seien 75.000 Bewohner von Bnei Brak positiv auf das Virus getestet worden, also fast 40 Prozent der Einwohner. Doch vermutlich gebe es noch zehntausende Infizierte, die einen Test verweigern, um nicht daran gehindert zu werden, im Familienkreis Pessach feiern zu können. In Bnei Brak ist die Infektionsrate fünfmal höher als im Rest des Landes. In Israels Krankenhäusern ist etwa die Hälfte der Corona-Patienten ultraorthodox, obgleich die „Haredim“ (Gottesfürchtige auf Hebräisch) nur 12 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Für den weltlichen Staat Israel zählen Gesundheit und Überleben der Bevölkerung zur höchsten Priorität. Deshalb sind besorgniserregende Zahlen.
Damit sich die Epidemie nicht auf das ganze Land ausbreitet, hat die Polizei rund um Bnei Brak Sperren errichtet. Niemand darf die Stadt mit etwa 200.000 Einwohnern ohne entsprechende Genehmigung verlassen. Bürgermeister benachbarter Städte wie Ramat Gan forderten gar das Verhängen einer Ausgangssperre über Bnei Brak, aus Angst, dass ihre Bewohner angesteckt werden könnten.
Am Donnerstag beschloss die Regierung, über Bnei Brak „Beschränkungen“ zu verhängen, wobei noch unbekannt ist, was das bedeutet. Am Freitag strömten hunderte Soldaten und Polizisten in die Stadt, um Läden zu schließen und die Bewohner daran zu hindern, sich ins Freie zu begeben. Wer auf der Straße war, musste seinen Ausweis vorzeigen und eine gute Erklärung vorweisen, wieso er seine Wohnung verlassen habe. Je nach Antwort gab es Geldstrafen. Nur kurze Gänge zur Apotheke oder um sich mit Nahrungsmitteln einzudecken waren erlaubt.

 

Der Gesundheitsminister ist selbst betroffen

Ein Grund für die sträfliche Verzögerung beim Durchsetzen von wirksamen Maßnahmen in Bnei Brak war Gesundheitsminister Jakov Litzman. Der ist selber ultraorthodox und wohnt in Jerusalem im ebenfalls stark betroffenen Viertel Mea Scherim. Ihm waren die traditionellen Bräuche wichtiger als der Schutz der Bevölkerung gegen Ansteckung. Deshalb zögerte er beim Durchsetzen der strengen Auflagen in Bnei Brak und wurde entsprechend dafür kritisiert. Nachdem unter den Ultraorthodoxen Juden die Katastrophe ausgebrochen war, ereilte ihn die entsprechende „göttliche Strafe“, wie man in frommen Kreisen sagen würde. Litzman und seine Frau stellten sich nach einem Test als infiziert heraus und mussten sich in die häusliche Quarantäne begeben. Zuvor hatte Litzman bei seinen offiziellen Beratungen offenbar die Geheimdienstchefs, den Generalstabschef und andere hohe Militärs sowie Minister und die Spitzen des Gesundheitsministeriums infiziert. Dutzende Generale und Funktionäre wurden vorsichtshalber unter Quarantäne gestellt.

 

In den Zwängen der Koalition

Das Hightech-Land Israel steht mit seinen vorzüglichen Forschungslabors weltweit an der Spitze der Bemühungen, Gegenmittel zur Erkrankung durch Corona und einen Impfstoff zu finden. Doch gibt es in Israel Dinge, für die nicht einmal modernste Forschung ein wirksames Gegenmittel gefunden hat. Und das schwierigste ist der Umgang mit einem Virus, das sich „Koalitionszwang“ nennt. Dass ausgerechnet Litzman Gesundheitsminister wurde, liegt an den Zwängen der Mehrheitsbeschaffungen für Regierungen. Wegen ungewöhnlich hoher Wahlbeteiligung sind die frommen Parteien eine entscheidende Macht im Parlament. Um überhaupt eine Mehrheit zu erhalten, musste Premierminister Benjamin Netanjahu mit ihnen eine Koalition eingehen. Die Frommen sind politisch neutral, weshalb sie seit der Staatsgründen an allen Regierungskoalitionen von Links wie Rechts beteiligt waren. Sie stellen entsprechend ihrer Weltanschauung die Forderung, den Vorsitz des Finanzausschusses in der Knesset zu erhalten, um sich Staatsgelder für ihr stark subventioniertes Erziehungssystem zu sichern. Und um nicht über hochpolitische Fragen wie dem Friedensprozess mitreden und entscheiden zu müssen, verlangten sie den Vorsitz über das Gesundheitsministerium. Und auch hier gab es eine Kuriosität. Jahrelang war offiziell der Premierminister der Gesundheitsminister, während Litzman der ausführende „stellvertretende Minister“ war. So brauchte er nicht am Kabinettstisch sitzen und abstimmen, konnte aber mit allen Vollmachten ausgestattet das Gesundheitswesen in Israel dirigieren. Mit der Anklage gegen Netanjahu hat der Ministerpräsident alle Nebenämter abgegeben. Und Litzmann war sichtlich damit überfordert, seine eigene Gemeinschaft wirksam einzubinden. Die aktuelle Auseinandersetzung zwischen Tradition und Moderne ist angesichts der Pandemie eine der größten Prüfungen für das kleine Land.


 
(C) Ulrich W. Sahm

Ulrich Sahm