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Nicht das Ende der Demokratie

Die geplante Justizreform der neuen israelischen Regierung schlägt national und international hohe Wellen. Ari Lipinski erklärt Begriffe und zeigt, dass die Demokratie letztlich gestärkt wird.

von Elazar Ari Lipinski
aus: factum 02/2023

 

Die aktuelle Debatte in Israel über eine Justizreform, die der neue Justizminister RA, Yariv Levin (54), im Namen der am 1. November 2022 gewählten und am 29. Dezember 2022 vereidigten Regierung anregt, schlägt national und international hohe Wellen. Man hört, dass Israels Demokratie in Gefahr sei, oder gar, dass die Vorschläge, Gott behüte, das Ende der Demokratie sind. Medien im In- und Ausland heizen die Diskussion mit Vorwürfen an, die israelische Regierung und religiöse Minister seien «rechts», «rechtsextrem», oder sogar «rechtsradikal».

Worum geht es? Wie sollen wir die Argumente einordnen? Fragen, die sich an Israel interessierte Leserinnen und Leser zu Recht stellen.

Justizminister Levin wurde in Jerusalem geboren. Seine Mutter war Abteilungsleiterin in der Nationalbibliothek, sein Vater, Arie Levin, war Professor an der Hebräischen Universität in Jerusalem (HUJ) und hat den Israel-Preis erhalten. Yariv hat in der Geheimdiensteinheit 8200 gedient. Er bekam eine hohe Auszeichnung der Einheit für sein Wirtschaftswörterbuch Hebräisch-Arabisch-Englisch. Nach dem Jura-Studium an der HUJ ist er als besonnener Anwalt erfolgreich geworden. Seine Vorschläge zur Justizreform kommen also von einem hochgebildeten und erfahrenen Juristen aus gutem Hause. Er ist als hochanständiger Mann bekannt. Ihn als eine Gefahr für die Demokratie zu verleumden, ist höchst fraglich.

Lassen Sie uns einige Begriffe klären, die in der Presse Verwirrung stiften. Die Bedeutung der Begriffe «rechts» und «links» aus der Sitzverteilung der sozialen Stände im französischen Parlament von 1790 hat mit deren heutigen Bedeutung in Israel nichts gemeinsam. Der Begriff «rechts» bedeutet in Israel, eine jüdisch traditionelle Haltung zur Religion zu haben. «Rechts» lautet auf Hebräisch Jamin, was ähnlich zum Wort Ma’amin (ein gläubiger Mensch) ist. «Rechtsradikal» werden in Israel Leute bezeichnet, die teils aus biblisch-religiösen und teilweise aus militärischen Überlegungen dagegen sind, dass sich Israel aus Jerusalem, Judäa und Samaria (als West Bank bekannt) und aus den Golanhöhen zurückziehen soll. «Links» steht in Israel für die politische Bereitschaft, Gebiete für Frieden an Araber zurückzugeben. «Extrem links» bedeutet, sogar bereit zu sein, Jerusalem wieder zu teilen, und die Golanhöhen an Syrien zurückzugeben.

Wie soll nun ein Europäer begreifen, dass gerade die orthodox-religiöse «Schass»-Partei der orientalischen Ju- den wirtschaftlich weit sozialistischer ist als die israelische Arbeitspartei, die als «links» gilt, weil sie hauptsächlich für den Rückzug aus Judäa und Samaria ist? Sozial schwache Gruppen wählen «Schass» mit Minister Rabbiner Deri (11 Mandate), während die heutige Arbeitspartei von der gehobenen Mittelschicht Tel Avivs gewählt wird und auf vier Mandate kommt. Aber die europäische Presse bezeichnet «Schass» als «rechtsextrem». Wenn Deutsche oder Schweizer den Begriff «rechtsradikal» in der Zeitung lesen, denken sie an Neonazis oder ähnliche zeitgenössische Rassisten. Doch wer in Israel politisch «rechts» ist und Jerusalem nicht im Rahmen von «Land für Frieden» abgeben will, ist noch lange kein Neonazi. Und ein Jude, der nicht auf die Klagemauer verzichten will, ist deswegen kein «Rechtsextremist». «Rechts-moderat» sind in Israel diejenigen, die bereit sind, dass die Palästinenser in Judäa und Samaria eine Autonomie ohne Jerusalem als Hauptstadt bekommen, aber keinen unabhängigen Staat haben sollen, der Israel mit Raketen (wie aus Gaza) beschiessen kann.

Das Thema der Gewaltenteilung ist dem Volk Israel nicht neu. Bereits vor 3300 Jahren verkündete Mose den 12 Stämmen Israels in der Wüste vor dem Einzug ins Gelobte Land: «Richter und Amtleute sollst du dir bestellen in allen deinen Ortschaften, die der Herr, dein Gott, dir geben wird, in jedem deiner Stämme, dass sie dem Volke Recht sprechen mit Gerechtigkeit» (5. Mose 16,18, Zürcher Bibel 1931). Das Volk sollte je nach Stamm seine Richter und die Amtleute bestellen. Richter bilden die Judikative. «Schotrim» sind die offiziellen Amtleute, die die Beschlüsse der Richter umsetzen. Modern heissen sie die Exekutive. Als Bibelleser wissen wir, dass Israels Gesetzgeber der Ewige ist. ER ist die Legislative. Die Torah ist das Gesetzbuch. Im Staat Israel gibt es keine Verfassung, aber eine Menge moderner Gesetze, die meistens im Einklang mit dem Geist der Torah sind. Richter und Amtleute der Regierung müssen nach dem Gesetz das Recht mit Gerechtigkeit sprechen, kein willkürliches Recht nach eigenem Gutdünken. Man kann mit Werner Keller sagen: «Und die Bibel hat doch recht!»

Seit der Staatsgründung 1948 bestimmt in Israel eine 9-köpfige Kommission die Richter. In der Kommission haben drei Richter und zwei Rechtsanwälte die Mehrheit gegenüber zwei Vertretern des Parlaments und zwei der Regierung. Die Judikative hat eine Mehrheit, in der praktisch die Richter ihre Amtskollegen wählen, was kein Land im Westen tut. Das will Levin ändern. Die Sitzungen sind bis heute geheim. Das will Levin öffentlich machen. Im 15-köpfigen Obersten Gericht Israels ist heute nur ein Araber und nur ein orientalischer Richter. Die aschkenasische (aus Europa stammende) Gruppe verfügt über eine überproportionale Mehrheit. Die Reform soll diese Schieflage korrigieren. Es sollen mehr Araber, mehr orientalisch stämmige Richter, mehr Vertreter der Nord- und Süd-Regionen eine Chance zur Teilnahme erhalten. Welche Gefahr soll da der Demokratie entstehen?

Ferner steht zur Diskussion, mit welcher Mehrheit die 15 Richter des Obersten Gerichts ein Gesetz der 120 Knesset-Abgeordneten ablehnen können. Es steht auch zur Debatte, inwieweit und mit welcher Mehrheit das Oberste Gericht Entscheidungen der Regierung blockieren darf. Heute kann eine vom Parlament abgesegnete Gesetzesvorlage durch eine einfache Mehrheit der Richter abgelehnt werden. Ferner will Levin den schwammigen Angemessenheitsmassstab aufheben. Dieser wird häufig angewendet, wenn es darum geht, Regierungsentscheidungen, welche die Richter für «unangemessen» halten, rückgängig zu machen.

Seit Jahrzehnten gilt in Israel, dass der Oberstaatsanwalt des Landes (der Chefankläger) zugleich der «juristische Berater der Regierung» ist, der eigentlich als Verteidiger der Regierung vor Gericht sein soll. Levin will die Übermacht dieser Personalunion einschränken. Juristische Berater der Regierung sollen wieder lediglich Berater ohne Vetorecht sein. Was ist daran undemokratisch, dass Berater nur Berater sein sollen?

Ist die legitime Forderung nach Transparenz eine Gefahr für die Demokratie? Ist ein legitimer parlamentarischer Streit um die Neujustierung des aus den Fugen geratenen Ausgleichs in der Gewaltenteilung bereits das Ende der Demokratie? Nein! Es ist ein legitimer politischer Machtkampf, der zwar medial giftig geführt wird. Aber ein Ende der Demokratie im Land der Wunder, Israel, ist es nicht.

Wie wird diese Krise in Israel beigelegt? Na klar: durch ein Wunder. Als jemand, der den Sechs-Tage-Krieg 1967 als Gymnasiast und den Jom-Kippur-Krieg 1973 als Soldat mitmachte, dann im November 1977 den Israel-Besuch von Ägyptens Präsident Anwar Saadat erlebte und sogar einige seiner Journalisten in seinem Kibbuz zu Gast hatte, kann ich aus Erfahrung sagen: Ben Gurion hatte recht, als er sagte: «In Israel musst du um Realist zu sein an Wunder glauben.»

Israels Justizminister Yariv Levin, 54 (aus: factum 02/2023)