Morgen, am Dienstag 9. April, wird in Israel gewählt. Es macht keinen Sinn, noch einmal auf die Prognosen der Umfrageinstitute einzugehen. Sie haben einander nicht nur bei den Spitzenkandidaten ständig widersprochen, sondern auch bei den Vorhersagen, welche kleine Partei die Sperrklausel von 3,25 Prozent schafft oder verschwindet. Doch von diesen kleinen Parteien hängt entscheidend ab, ob Bibi oder Benny die nächste Regierung errichten kann: Benjamin Netanyahu, kurz Bibi genannt, oder der ehemalige Generalstabschef Benny Gantz. Wer nur die deutschen Medien liest, wird auf absurdes Theater stoßen.
Für die Redaktionen steht schon fest, dass Netanyahu eigentlich diese Wahl nicht gewinnen sollte. Denn sonst würde bei jeder Nennung seines Namens neben den hohlen Negativ-Formeln „Hardliner“, „Rechtspopulist“ oder gar „Kriegstreiber“ nicht auch noch ein ellenlanges Sündenregister aufgezählt von Bestechung über Korruption und bis hin zu ungezügelter privater Gewinnlust. Nicht erwähnt wird dabei, dass es bis heute keine Anklage gegen ihn gibt oder gar ein Gerichtsurteil. Deshalb gilt trotz aller „Gewissheit“ der Gegner des Ministerpräsidenten immer noch die Unschuldsvermutung. Hinzu kommt, dass er in der Wirtschaft, bei den diplomatischen Beziehungen mit Großmächten wie Russland, Indien, China und den USA viele Pluspunkte gewonnen hat. Seine Rücksichten auf die Frommen sind auch nur relativ zu verstehen, denn als sein heutiger Gegner Yair Lapid am Kabinettstisch gesessen hat, führte der selbe Netanyahu die Wehrpflicht für Ultraorthodoxe ein.
Die unverhohlene Begeisterung für Benny Gantz liegt vor allem in der Chance begründet, dass er Netanyahu ablösen könnte. Da werden gerne zufällig befragte alte Frauen zitiert, die meinen, dass Gantz doch ein großer schöner Mann sei und eine „angenehme Ausstrahlung“ habe. Konkrete Hinweise, wie und was er bei entscheidenden Elementen der israelischen Politik anders machen könnte, gibt es nicht, weil Gantz sich bisher kaum öffentlich geäußert hat, von mehreren völlig missglückten Fernsehinterviews mal abgesehen. Niemand weiß, wie er seine Politik zu den Palästinensern, den Siedlungen in den besetzten Gebieten oder den Frommen gestalten will.
Hysterische Reaktionen wegen Annexionsversprechen
Gleichwohl reagierten die Medien, nicht nur in Deutschland, völlig hysterisch auf ein Wahlkampfversprechen Netanyahus, er wolle die Siedlungen im Westjordanland annektieren. Da hieß es, dass das doch „Palästinensische Gebiete“ seien, oder zumindest von den Palästinensern für ihren künftigen Staat beanspruchte Territorien. Niemand machte sich die Mühe, zu erklären, wann die Gebiete jemals palästinensisch waren, oder warum die Palästinenser bis heute ihren „künftigen Staat“ nicht ausgerufen haben. In den Osloer Verträgen, auf die sich manche berufen, steht jedenfalls kein Wort über die Entstehung eines separaten Staates. Dort geht es nur um eine Selbstverwaltung oder eben um eine „Autonomie“. Dass diese Gebiete nach dem Abzug der Briten 1948 unter jordanischer Kontrolle standen und dass Israel sie im Rahmen eines Krieges gegen Jordanien 1967 erobert hat, wird nirgends erwähnt. Hinzu kommt, dass Netanyahu auf eine Äußerung seines Wahlkampfgegners Yair Lapid reagiert. Der hat im Rahmen seines Wahlkampfes versprochen, 80.000 Israelis aus dem Westjordanland zu vertreiben/umzusiedeln. Und jetzt muss man sich fragen, wieso sich die Medien so sehr über Netanyahus Wahlkampfversprechen aufregen und gleichzeitig zuversichtlich sind, dass er abgewählt werde. Seit wann werden Wahlkampfparolen derart auf die Goldwaage gelegt und noch dazu von einem Politiker, dessen Amtszeit angeblich infolge der Wahlen jetzt enden wird?
Der Grund für diese widersprüchliche Beschäftigung mit Israel, Netanyahu und dem Wahlkampf ist nur mit der obsessiven Beschäftigung mit Israel zu erklären. Und obgleich noch nichts passiert ist, außer Wahlkampfparolen, beunruhigen die Spekulationen, wie dieser noch keineswegs beschlossene Schritt einer Annexion zu einem flächendeckenden Krieg, in dem ansonsten ach so friedlichen Nahen Osten führen werde. Wer interessiert sich schon für die halbe Million Toten in Syrien, für die verhungernden Kinder im Jemen oder für Algerien, Libyen und andere Länder mit kriegerischen Auseinandersetzungen.
Der lange Weg zum neuen Ministerpräsidenten
Als Fakt sei hier darauf hingewiesen, dass Netanyahu den Israelis und den Medien noch eine ganze Weile erhalten bleiben wird. Nach der Veröffentlichung des Wahlergebnisses wird der Staatpräsident erst einmal mit allen Parteien „Konsultationen“ führen müssen. Jener Kandidat, der die meiste Zustimmung erhält, wird dann vom Präsidenten den Zuschlag erhalten, eine regierungsfähige Koalition zu bilden. Die Koalitionsverhandlungen können sich erfahrungsgemäß in die Länge ziehen, da jede Partei ihr besonders am Herzen liegende Versprechungen und vor allem Gelder erhalten will. Ein Erfolg ist also keineswegs garantiert. Schlimmstenfalls muss erneut gewählt werden. Erst wenn alles über die Bühne gegangen ist, kann eine neue Regierung vereidigt werden. Bis dahin wird Netanyahu an der Spitze einer „Übergangsregierung“ die Geschicke des Landes und teilweise auch des Nahen Ostens leiten.
(C) Ulrich W. Sahm
| von Ulrich W. Sahm, Jerusalem, Israel