von Johannes Gerloff
Abenteuerliche Notrufe über die Lage in Israel zeichnen ein dramatisches Bild. Es geht um Impfzwang, der hier angeblich ausgeübt wird. Israel wird einer Zwei-Klassen-Gesellschaft oder sogar der Apartheid bezichtigt. Der jüdische Staat wird mit Nazideutschland verglichen, die Regierung Netanjahu mit dem Regime Adolf Hitlers, der grüne Pass mit dem gelben Stern, aktuelle Pandemie-Verordnungen mit den Nürnberger Rassegesetzen und Pfizers Impfstoff mit dem Giftgas Zyklon B.
Da diese Berichte „direkt aus Israel“ kommen, werden sie in christlichen Kreisen bereitwillig verbreitet. Begleitet wird das dann nicht nur von der Aufforderung, das Ganze unbedingt zu teilen, sondern auch von Anmerkungen wie etwa: „Es würde mich von der Bibel her nicht wundern, wenn Israel so vorgeht.“ Mancher Bibel-Experte ist sich sicher, dass der Antichrist aus Israel kommen und das jüdische Volk diesem gesetzlosen Meisterverführer bereitwillig verfallen wird. „Ist Israel der Vorreiter des Bösen“, werde ich verunsichert gefragt. Manche vermuten hinter der Impfkampagne das „Zeichen des Tieres“ aus Offenbarung 13.
Die Lage in Israel
Ein Klischee besagt, dass der letzte Satz eines sterbenden Deutschen ist: „Aber, das haben wir doch immer so gemacht…“ – Der Israeli dagegen hat gar keine Zeit für einen letzten Satz, weil er völlig überrascht an etwas stirbt, was bislang kein Mensch vor ihm zu tun gewagt hätte.
Klischees tragen oftmals ein Körnchen Wahrheit in sich. Es ist definitiv die Freude an Innovationen, die Israel zur Start-up-Nation Nummer Eins in der Welt gemacht hat. Der stereotyp angedeutete Mentalitätsunterschied ist gewiss auch eine Erklärung dafür, weshalb in Deutschland die Gefahr so groß ist, an Richtlinien zu ersticken oder unter die Räder irgendeines Gesetzes zu geraten, während es fast unmöglich ist, Israelis in irgendeiner Weise im Gleichschritt marschieren zu lassen.
Rauer Umgangston
Die ruppige Verhaltens- und Ausdrucksweise, das direkte Aussprechen dessen, was man fühlt, denkt und will von Israelis, die „hebräisch“ aufgewachsen sind, erscheint anderen Kulturen nicht selten als unhöflich, frech, gefühllos. Einwanderer, die aus Nordamerika, Europa oder Russland nach Israel kommen, werden sich ein Leben lang nicht an diesen Umgangston gewöhnen.
Eltern schütteln entsetzt den Kopf, wenn ihre Sprösslinge fließend in der heiligen Sprache wiedergibt, was er im Kindergarten aufgeschnappt haben: „Ich bring dich um!“ In einer anderen Sprache und Kultur ist kaum verständlich, wenn in einer Tageszeitung Mitte März Landwirte im Zusammenhang einer wirtschaftlichen Auseinandersetzung als „Feinde des Volkes“ bezeichnet werden.
Diese und noch viele andere Mentalitätsunterschiede wollen bedacht sein, wenn man vom Ausland her verstehen will, was in Israel im Blick auf Corona und die Impfkampagne geschieht.
Versuchskaninchen Israel
Manche Eigenschaften und Sichtweisen des jüdischen Volkes haben uralte historische Wurzeln. Seit grauer Urzeit waren seine Vorfahren der Testfall par excellence. An Israel hat Gott ausprobiert, wie das ist, einen Menschen zu berufen, zu erwählen, zu begaben, auf die Probe zu stellen und zu bestrafen; einer Gruppe von Menschen Sein Wort anzuvertrauen, sie durch eine herausfordernde Landschaft mit kaum bekanntem Ziel zu führen oder mit dem Messias zu konfrontieren. Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen.
Das jüdische Volk war im Laufe der Jahrtausende Versuchskaninchen von Fanatikern, Rassisten, Massenmördern, und ist seit dem Zweiten Weltkrieg ganz offensichtlich Laboratorium für alle möglichen und unmöglichen Resolutionen der Vereinten Nationen. Seit Jahrzehnten entwickeln und erproben die Großmächte ihre neuesten Rüstungstechnologien mit Hilfe des Konflikts um den jüdischen Staat.
Deshalb sollte es eigentlich niemanden erstaunen, wenn die Menschen in Israel jetzt auch Testfall für die Covid-19-Impfung sind. Festzuhalten bleibt trotzdem:
Israel ist eine Demokratie
Wenn jetzt innerhalb von kaum zwei Jahren zum vierten Mal gewählt wird, spiegelt das eine Gesellschaft wider, in der zwei Juden drei Meinungen haben. Hinzu kommt noch eine schier unüberschaubare Vielfalt an Nichtjuden jeglicher religiöser und ethnischer Couleur. Das Vergehen der Republikflucht, das in unserer guten alten DDR nahezu allgegenwärtig war, ist hier zu Lande unbekannt.
Es gibt kein Thema, das in Israel nicht sehr engagiert diskutiert wird. Dazu gehört auch die Covid-19-Impfung. Laut einer Aussage im Radio wollen sich etwa dreißig Prozent der Israelis nicht impfen lassen. Dass es dabei auch einmal zu Handgreiflichkeiten kommt, ist durchaus vorstellbar. Man wird hier in bestimmten Gegenden auch mit Steinen beworfen, wenn man es wagt, am Sabbat motorisiert unterwegs zu sein.
Und heuer kommt auch noch ein Wahlkampf hinzu. In der Hitze eines politischen Gefechts wurde ein politischer Gegner auch schon einmal als „Amalek“ bezeichnet (vergleiche 5. Mose 25,19) – was nach Veröffentlichung des Wahlergebnisses dann nicht unbedingt von Koalitionsgesprächen abhalten muss. Political Correctness gehört weder zu den natürlichen Charakterstärken der Israelis, noch zu den Innovationen ihres Landes.
Niemand muss sich impfen lassen
Die Regierung Netanjahu hat sich in Zusammenarbeit mit dem Pharmakonzern Pfizer das klare Ziel gesetzt, Impf-Weltmeister zu werden. Weil an anderen Bedrohungen und Erfolgen offensichtlich Mangel herrscht, scheint der Wahlkampf dem angeschlagenen Regierungschef doch ziemlich zuzusetzen. Diese Umstände mögen zu Aussagen geführt haben, die nicht gerechtfertigt werden können.
Ganz gewiss ist Vieles, was israelische Politiker sagen und entscheiden diskussionswürdig. Eine ganze Reihe der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie mögen sinnlos sein und unnötiges Leid verursachen. Darüber muss geredet werden – und darüber wird in Israels Gesellschaft heftig, kontrovers und nicht immer politisch korrekt diskutiert.
Um das allerdings klar zu stellen: Niemand in Israel muss sich impfen lassen, genauso wenig, wie jemand einen Führerschein machen muss. Ich weiß aus erster Hand, dass Mitarbeiter im Gesundheitswesen und Offiziere der höchsten Ränge nicht geimpft sind.
Es gibt Juden im Lande Israel, die den modernen jüdischen Staat als Gotteslästerung ablehnen. Deshalb haben sie keinen israelischen Pass und gehören keiner Krankenversicherung an – was beides möglich ist. Selbstverständlich bleiben ihnen dadurch gewisse Privilegien vorenthalten, die man mit einem israelischen Pass oder einer Versicherungskarte hätte. Ob man das jetzt für richtig halten muss, wenn diese orthodoxen Juden Israelis als „Zionazis“ bezeichnen, und ob man das im Ausland breittreten muss, darf gerne hinterfragt werden.
Der so genannte „grüne Pass“
ist schlicht ein Impfnachweis, auf dem verzeichnet ist, wer wann mit welchem Impfstoff geimpft wurde und bis wann diese Impfung gültig ist. Dass die Impfung einen Unterschied macht, wie man behandelt wird, sollte eigentlich klar sein. Das gilt für jede Impfung. Wäre dem nicht so, würde eine Regierung per Verfahrensweise die von ihr verlangte Impfung zur Farce erklären.
Vor einer Reise nach Afrika musste ich eine ganze Liste von Impfungen über mich ergehen lassen, die alle weder gesund noch vergnügungssteuerpflichtig waren. Ohne den amtlichen Nachweis für diese Impfungen hätte ich nicht in meinem Zielland einreisen dürfen. Trotzdem wurde bei der Einreise noch einmal meine Körpertemperatur gemessen.
Selbstverständlich diskriminiert Israel zwischen Leuten mit Führerschein und Leuten ohne Führerschein, zwischen Leuten mit Waffenschein und Leuten ohne Waffenschein. Wer gegen diese Diskriminierungen verstößt, wird strafrechtlich verfolgt. Dafür bin ich dankbar.
Der Vergleich mit den Nazis
Ich verstehe, dass Menschen, die als Kinder von den Nazis verfolgt wurden, dadurch Schreckliches erlitten haben, und danach ein Leben lang in der Sowjetunion verbringen mussten, jetzt ein Trauma haben und überall Diktatur wittern. Ich kann nachvollziehen, dass sich jüdische Menschen, die im Verlauf der vergangenen drei Jahrtausende schrecklich verfolgt wurden, existentiell bedroht fühlen. Das bedeutet allerdings noch lange nicht, dass ihre politischen Ansichten zutreffend sein müssen, zumal wenn diese Traumata und nicht rationalen Analysen entspringen.
Wer die Situation hier in Israel mit Deutschland zur Zeit der Nazis vergleicht, hat entweder keine Ahnung, wer die Nazis waren, oder keine Ahnung von der Realität im heutigen Israel – oder er ist böswillig anti-israelisch. Ähnliches gilt aus meiner Sicht für diejenigen, die hinter Netanjahus Ambitionen das „Zeichen des Tieres“ (Offenbarung 13,16-17) vermuten oder behaupten, der Antichrist müsse aus dem jüdischen Volk kommen.
Versuch einer geistlichen Orientierungshilfe
Jetzt verstehe ich sehr gut, dass viele Menschen verwirrt sind. Die Ereignisse des zurückliegenden Jahres haben Vieles erschüttert, was wir für absolut unumstößlich gehalten haben. Und natürlich nehme ich sehr ernst, wenn Bibelleser spüren, dass die Heilige Schrift konkret in unsere Zeit hinein spricht und wissen, dass das Geschehen um Israel entscheidend ist für die ganze Welt.
Ein realistischer Blick
Die Bibel erlaubt mir einen realistischen Blick auf diese Welt, in der wir leben. Ich bin dankbar für alle wissenschaftlichen Errungenschaften, die mir das Leben erleichtern. Das gilt nicht nur für die Fortbewegungsmittel, die mir die einst lebensgefährliche Reise des Apostels Paulus heute zur Ferienkreuzfahrt werden lassen oder erlauben, innerhalb von drei Stunden von einem Ende des antiken römischen Reiches zum anderen zu fliegen.
Ich bin von Herzen dankbar dafür, dass mir der Vater im Himmel, wenn sich körperliche Gebrechen melden, Experten an den Wegrand stellt, die mich einrenken, mir durch allerlei Geräte auf der Nase den Blick klären, die Zähne bohren und wieder flicken oder auch allerhand Medikamente verabreichen.
Gleichzeitig bin ich mir darüber im Klaren, dass mir alles Mühen von Ärzten und Wissenschaftlern kein Heil bringen kann. Es bleibt immer ein Experimentieren, an dessen Ende immer ein Leichnam liegen wird. Experten können uns den Weg ins Grab nicht ersparen. Sie können ihn im besten Fall ein wenig verlängern und vielleicht etwas angenehmer gestalten. Aufgrund meiner Prägung durch die Bibel bin ich überzeugt: Wir gehen alle ausnahmslos mit Volldampf der Auferstehung entgegen.
Das prägt meine Grundeinstellung. Ich erwarte nichts Unrealistisches für mein Dasein. Ich bin gelassen im Blick auf meine Zukunft. Und ich bin barmherzig gegenüber Fachleuten, wenn diesen Fehler unterlaufen oder wenn sie mir eingestehen, dass sie nicht mehr weiterwissen.
Ein Testfall für Christen
Ich habe den Eindruck, dass wir in einer Zeit leben, die eine Prüfung für die Gemeinde Jesu weltweit ist. Dabei sind die entscheidenden Fragen: Wie halten wir es mit der Wahrheit? Orientieren wir uns tatsächlich am Wort Gottes? Wie gehen wir um mit Prophetien, die sich im Rückblick schlicht als falsch erwiesen haben? Wie gehen wir damit um, wenn wir falsche Aussagen oder unwahre Prophetien weitergeleitet haben? Wie ernst nehmen wir’s mit Verleumdung und übler Nachrede?
Ja, ich bin überzeugt, Christen sollten sich im Umgang mit den sozialen Medien dahingehend auszeichnen, dass sie die biblischen Gebote leben, die Würde anderer Menschen achten und sich verantwortungsbewusst äußern – im Bewusstsein, dass jeder von uns einmal Rechenschaft ablegen muss, über jedes unnütze Wort, das er gesagt oder weitergeleitet hat (Matthäus 12,36-37).
Wer hat das letzte Wort?
Und dann stellt sich in dieser Zeit, vielleicht wie nie zuvor die herausfordernde Frage: Wer ist tatsächlich „Gott“ in meinem Leben? Das zeigt sich an meinem Verhalten. Strahle ich die Freiheit, den Frieden, die Zuversicht und die Ruhe aus, zu denen ich erlöst wurde?
Diene ich tatsächlich dem Herrn, der seine Jünger gelehrt hat, dass nicht das den Menschen verunreinigt, das von außen in ihn hineingeht, sondern das, was aus seinem Herzen kommt (Markus 7,14-23)? Bin ich unterwegs im Auftrag des Herrn, der sehr wohl wusste: „In der Welt habt Ihr Angst…“ (Johannes 16,33)? Der dann seine geliebten Jünger aber in genau diese Welt schickte, weil er wusste: „Mir ist gegeben alle Macht in der unsichtbaren Welt und in der Welt, die uns begreifbar erscheint…“ (Matthäus 28,18)?
Wenn der auferstandene Jesus „alle Macht“ sagte, dann bedeutet das, dass in dieser Welt nichts ohne seine Erlaubnis geschehen kann. Er sandte seine Jünger, obwohl er die Möglichkeit voraussah, dass sie im Rahmen seines Auftrags etwas Giftiges würden schlucken müssen (Markus 16,18). Er wusste, dass Messias-Nachfolge „Kreuz“ bedeutet und „Kreuz“ immer irgendwie nach „Lebensgefahr“ riecht (Markus 8,34-38).
Schaffen wir das wirtschaftlich?
Nein, ich habe keine Hoffnungsbotschaft für die Wirtschaft. Aber ich diene dem Herrn, dem eine Armee von Raben zur Verfügung steht, um die zu versorgen, die nicht bereit sind, ihre Knie vor dem Baal des Zeitgeists zu beugen (vergleiche Römer 11,3-5; 1. Könige 17-19) – und ich möchte Sie gerne einladen, dass wir das gemeinsam tun; dass wir einander Mut machen, einander aufrichten, anstatt einander Angst einzujagen oder in Panik zu versetzen.
Ja, ich gebe zu, da gibt es eine ganze Reihe von ganz praktischen rational gesehen wirklich existentiellen Fragen, die Anlass zur Unruhe geben. Mir wäre auch lieber, die Raben würden das Fleisch, das sie mir bringen, vom Tisch eines Königs Ahab oder aus einer Würstchenbude in Thüringen klauen, als es von einem überfahrenen Wildschwein oder einem verendeten Kamel abzuzupfen…
Wie gehen wir miteinander um?
Und dann bleibt da noch die Frage: Wer hat Recht? – Wenn ich Jeschua, dem Messias zuhöre, dann lerne ich, dass es weder unsere Rechtgläubigkeit noch unsere Besserwisserei ist, die andere zur Erkenntnis der Wahrheit bringt, sondern „daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Johannes 13,35). Und diesen Herzenswunsch unseres Herrn kann keiner von uns allein erfüllen. Das müssen wir gemeinsam tun.