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| Tobias Rink, Pastor im Julius-Schniewind-Haus

Was mir Israel bedeutet

Vor etlichen Jahren besuchte ich zusammen mit anderen Christen eine Synagoge im Süden Deutschlands. Vor uns stand ein sehr selbstbewusster Rabbiner, der uns den jüdischen Gottesdienst erklärte. Dabei erwähnte er den Satz: „Unsere christlichen Freunde benutzen fortlaufend unsere Psalmen ohne Copyright dafür zu bezahlen“.

– Diese Aussage ist mir nachgegangen. Ja, es stimmt, wir benutzen die Bibel Israels, verehren einen Juden als Messias, feiern im Kirchenjahr Feste wie Weihnachten, Karfreitag, Ostern und Pfingsten, die ursprünglich „innerjüdische Ereignisse“ gewesen sind und gehen am Sonntagmorgen in einen Gottesdienst, der sich aus der synagogalen Tradition heraus entwickelt hat. Und was ist mit dem „Copyright“, sprich: mit der Wertschätzung und Achtung des Volkes Israel?

Haben wir den christlichen Glauben nicht so stark kontextualisiert, dass sein jüdischer Charakter nahezu unsichtbar geworden ist?

– Auf den folgenden Zeilen möchte ich versuchen, das geforderte ‚Copyright’ zu entrichten, indem ich meine persönliche Beziehungsgeschichte zu Israel und den jüdischen Wurzeln des Glaubens erzähle.

Meine Liebe zu Jesus, dem jüdischen Messias

Aufgewachsen in einem christlichen Elternhaus, war mein Leben schon von frühester Kindheit an damit verbunden, zum Gottesdienst zu gehen, Gebete zu sprechen und Geschichten aus der Bibel kennen zu lernen. Meine Eltern gehörten seinerzeit zu einer Baptistengemeinde, in der ich quasi aufgewachsen bin. Für diese Einbindung bin ich bis heute sehr dankbar und dennoch brauchte es die unmittelbare Begegnung mit Jesus, die mein Leben veränderte.

Im Rahmen einer Evangelisation auf Allianz-Basis hörte ich zum ersten Mal SEINE Stimme. So etwas hatte es in meiner ganzen christlichen Erziehung bisher nicht gegeben. Ich wusste viel über Jesus, hatte aber von ihm selbst noch nie etwas vernommen. Es waren nicht die Worte der Predigt, die mich erreichten, sondern ein unmittelbares liebevolles Reden Jesu zu meinem Herzen. Den genauen Wortlaut habe ich vergessen.

Aber ich weiß noch sehr genau, dass es inhaltlich darum ging, im Kreuz Jesu ein göttliches Handeln ‚für mich’ zu sehen und dieses anzunehmen. Das war der Startschuss einer ganz persönlichen Liebesgeschichte. Ohne an dieser Stelle auf Einzelheiten einzugehen kann ich sagen, dass diese Verbindung mit Jesus seither zur Grundlage und Dynamik meines Lebens geworden ist. Ich erfuhr den Segen der Beichte, durch die der Schmutz und Unrat meines Lebens immer neu beseitigt werden konnte.

Ich erlebte den Heiligen Geist als eine Wirklichkeit, die in mir die Liebe zu Gott und die Leidenschaft zum Dienst an anderen Menschen erweckte. Ich entdeckte Gott als einen Vater, der sich um meine inneren Verletzungen kümmerte – und davon hatte ich einige. Kurz: Die Beziehung zu Jesus wurde zum entscheidenden Halt in meinem Leben. – Auf diesem Hintergrund kam es dann zu einer erstaunlichen Entwicklung: Am Anfang war Jesus für mich – wie sollte es anders sein – ein Baptist.

Was immer ich in der Bibel las, schien mir genau das Glaubensverständnis zu bestätigen, in das hinein ich erzogen worden war. Nach einer Weile wurde diese Sicht jedoch unerwartet deutlich aufgeweitet. Es waren verschiedene Erfahrungen der Gegenwart Gottes, die mich mit dem lutherischen Abendmahlsverständnis (Christus wird in, mit und unter den beiden Elementen empfangen), der pfingstlich-charismatischen Sicht des Geisteswirkens sowie der katholischen Wertschätzung der Kirchenväter verbanden.

Bis zum heutigen Tag kann ich sagen, dass die Liebe zum Leib Christi in seiner Vielfalt in mir stetig gewachsen ist. Natürlich kenne ich auch die Spannungen und Dissonanzen in diesem Bereich. Nur ist mir folgendes klar geworden: Niemand von uns ist heiliger als der Heilige Geist. Wenn dieser sich nun gar nicht schämt, Brüder und Schwestern unterschiedlichster Prägung mit seiner Gegenwart zu erfüllen, dann will ich mich auch nicht schämen, sie trotz aller Unterschiede als meine Familie anzunehmen.

Es waren gerade die Lehrunterschiede, die mich zum Studium der Bibel motivierten und dabei machte ich eine weitere unerwartete Entdeckung: Jesus ist gar nicht in erster Linie Pfingstler, Baptist, Lutheraner, Katholik etc. sondern schlicht und ergreifend Jude. Er wurde in einer armen jüdischen Familie geboren und am achten Tag beschnitten.

Seine Taufe geschah durch Johannes, den letzten Propheten des Alten Bundes. In seiner Verkündigung des Reiches Gottes verknüpfte er die Alltagswelt seiner jüdischen Zeitgenossen mit einer messianischen Interpretation der Thora. Am Kreuz ist er als ‚König der Juden’ gestorben und nach seiner Auferstehung ist er von jüdischen Augen gesehen und mit jüdischen Händen betastet worden (Thomas). – Wenn ich also sagen sollte, warum ich ein dankbares und inniges Verhältnis zum Volk Israel unterhalte, dann deshalb, weil die Liebe seines Messias mich so tiefgreifend verändert hat und weil mir die kostbaren Worte des Evangeliums aus jüdischen Händen übergeben wurden.

In dem Maße, wie meine Liebe zu Jesus wuchs, interessierte ich mich für IHN als Person. Dabei stieß ich fortlaufend auf seine jüdische Identität. Könnte es sein, so schlussfolgerte ich, dass die Einheit unter Christen dadurch beflügelt wird, dass wir nicht nur unsere konfessionellen Überzeugungen aus der Bibel herauslesen, sondern der jüdischen Wurzel unseres gemeinsamen Glaubens neue Aufmerksamkeit schenken?

Meine Dankbarkeit für die jüdische Wurzel

Zu mir und meiner inneren Entwicklung gehört auch die Berufung zum pastoralen Dienst, die sich über mehrere Etappen hin entfaltete. Im Theologiestudium lernte ich viel über die orientalische Prägung der Heiligen Schrift. Was das aber wirklich bedeutet, habe ich erst richtig begriffen, als ich nach einer Zeit des gemeindlichen Dienstes für einige Jahre in den Mittleren Osten ging.

Im Rahmen dieses kirchlich-sozialen Dienstes lernte ich Menschen kennen, die mir durch ihr Leben die orientalische Mentalität erst richtig erschlossen haben. Beispielsweise traf ich einen älteren Herren im Kaffee-Haus, der mir folgendes von sich erzählte: „Ich bin Muslim und darf bis vier Frauen nebeneinander haben. Nun, ich habe zwei, aber keine davon ist mein Liebling“. – Ich dachte: Du armer Kerl, wie hast du denn das hinbekommen…?“

– Darauf erzählte er mir, dass er seine erste Frau drei Tage vor der Hochzeit zum ersten Mal überhaupt gesehen hat. Eheschließungen sind im Orient bis heute eine geschäftliche Vereinbarung zwischen zwei Familien. Das hörte sich für mich so ähnlich an wie bei Jakob, der in der Hochzeitsnacht den Schleier seiner ‚Angehimmelten’ hochhob und plötzlich feststellte, dass die ältere Lea statt der ‚knackigen Rahel’ darunter war. Nun musste er nochmals sieben Jahre malochen, um so die Geschäftsbedingungen für die Heirat seiner eigentlichen Flamme zu erfüllen (1. Mose 29).

Die zweite Ehe meines geschätzten Gesprächspartners kam dadurch zustande, dass sein Bruder im Rahmen eines militärischen Einsatzes fiel und dieser mit seiner Frau noch keine Kinder hatte. Folglich musste er an seines Bruders Stelle treten, so schreibt es die Tradition vor, um für ihn im Sinne der Sicherung seiner Nachkommenschaft Kinder zu zeugen. – Was ist das? Klar, die klassische „Leviratsehe“ des Alten Testaments (1. Mose 38; 5. Mose 25,5ff).

Ich war platt: Vor mir saß ein Mann, der einen Abstand von über 3000 Jahren zu überbrücken schien. Das war Geschichte zum Anfassen. So merkwürdig es auch klingen mag, aber das Kennenlernen der Alltagswelt des muslimisch-christlichen Orients war für mich wie ein großer Bibelkommentar, der mir half, die jüdische Identität der Heiligen Schrift besser zu verstehen, der ja ebenfalls eine orientalische Prägung anhaftet.

In meinem Inneren ging es in diesen Jahren zu wie in der Werkstatt eines Restaurators, der die ‚abendländischen Farbschichten’ meiner biblischen Kenntnisse abtrug, um so das ‚orientalische Original’ sichtbar werden zu lassen. Auf diesem Hintergrund beschäftigte mich natürlich auch der Abschnitt von Römer 11,16ff, in dem Paulus das prophetische Bild von der Wurzel des Ölbaums und den verschiedenen Zweigen erläutert. Ohne an dieser Stelle einer detaillierten Auslegung nachgehen zu können, möchte ich auf einige Beobachtungen hinweisen, die mich sehr bewegt haben.

Ich begriff plötzlich, dass jede Bekehrung eines Nichtjuden – wie eben auch die meine – bedeutet, dass sein Leben mit einer bereits vorhandenen Wurzel verbunden wird. Das Neue Testament markiert nicht den Beginn einer neuen Religion, sondern es stellt die organische Fortsetzung der Bundesgeschichte Gottes mit seinem Volk Israel dar, wie sie sich im Licht des Messias-Geschehens ereignet hat. Als ‚gelernter DDR-Bürger’ weiß ich seit dem Jahre 1989 ziemlich genau, was ein Beitritt ist.

Die ostdeutschen Länder wurden in ein bereits vorhandenes politisches und wirtschaftliches System hineingenommen und das war ein Lernprozess mit vielen Facetten. In ähnlicher, wenn auch viel tieferer Weise geschieht das im geistlichen Leben: Durch die Bekehrung zu Jesus, dem jüdischen Messias, bin ich in die Bundesordnungen Israels hineingenommen worden. Aus diesem Grund schreibt Paulus den Gemeinden in der römischen Provinz Galatien, zu denen auch viele Christen aus nichtjüdischen Völkern gehörten, dass sie durch den Glauben ‚Abrahams Kinder’ geworden sind (Galater 3,7).

Hier ist von einer ungebrochenen heilsgeschichtlichen Kontinuität die Rede, die auch auf dem Apostelkonzil in Apostelgeschichte 15 diskutiert wurde. Der Streit um die Frage, ob die Messias-Gläubigen aus den Heidenvölkern beschnitten werden und damit das jüdische Leben unter der Thora in Gänze übernehmen sollten oder nicht, ist doch nur denkbar, weil es in einer Sache Konsens gab: Jede Bekehrung zu Jesus führt zur Hineinnahme des Gläubigen in die Gaben und Ordnungen des Bundes, den Gott mit Israel geschlossen hat. Diskutiert wurde das „Wie“ der Hereinnahme, nicht aber der Vorgang an sich.

Diese Erkenntnis führte mich zu der Frage, wie die beiden Bünde – nämlich der alte und der neue – zueinander im Verhältnis stehen. Das ist eine, für die Auslegung der Bibel grundlegende Fragestellung, die aber zugleich ein sehr umfangreiches Thema darstellt. Daher möchte ich mich an dieser Stelle auf ein einziges Schlaglicht beschränken: Beide Bünde sind durch ein Verhältnis von Kontinuität und gleichzeitiger Diskontinuität miteinander verbunden.

Das Neue am Neuen Bund ist die Erlösungsordnung, wonach das vergossene Blut Jesu am Kreuz und nicht das Blut von Böcken und Kälbern Vergebung der Sünde wirkt (Hebräer 9,12). Die Kontinuität zwischen den beiden Bünden besteht in der Lebensordnung der Thora. Diese gilt ungebrochen weiter, weshalb die Zehn Gebote (2. Mose 20) nicht nur für Juden, sondern auch für Christen verbindlich sind. In ähnlicher Weise verhält es sich mit dem biblischen Schöpfungsbericht in 1. Mose 1-2.

Dieser wird im Neuen Testament nicht wiederholt, sondern als bekannt und gültig vorausgesetzt (2. Korinther 4,6). Wenn ich folglich sagen sollte, warum ich ein herzliches Verhältnis zum Volk Israel unterhalte, dann deshalb, weil ich in meinem gesamten geistlichen Leben an seiner von Gott geschenkten Wurzel partizipiere. Der von Paulus erwähnte ‚Saft des Ölbaums’ (Römer 11,17) ist nichts anderes als eine Bezeichnung des Heiligen Geistes, der aus der jüdischen Wurzel des Glaubens hervorströmt und aus einem wilden Ölbaumzweig Frucht hervorbringt, die in Ewigkeit bleibt.

Meine Empathie für den Staat Israel

Mein Vater, Johannes Rink, ist in seinem ganzen Leben nicht ein einziges Mal in Israel gewesen. Aber aufgrund seines Bibelstudiums kam er zu dem Ergebnis, dass zwischen dem Israel der biblischen Zeit und dem gleichnamigen Staat in unserer unmittelbaren Gegenwart ein Verhältnis heilsgeschichtlicher Kontinuität besteht. Deshalb besaß er eine große Empathie für den Staat Israel. Mich hat das immer beeindruckt, aber noch mehr haben mich die Worte des Apostels Paulus in Römer 9,3 berührt.

Dort bekundet dieser nämlich seine Bereitschaft, die persönliche Trennung von Christus hinzunehmen, wenn dadurch seine jüdischen Volksgenossen zum Glauben an Jesus geführt werden könnten. Ich habe mich natürlich gefragt, ob ich, Tobias Rink, bereit wäre, ebenfalls so weit zu gehen? Die eigene Erlösung durch Jesus in die Waagschale werfen? Auf die Liebe Gottes für immer verzichten? Ich bin mir offen und ehrlich gesagt bis heute nicht sicher, ob ich das tun könnte.

Aber in einem Punkt ist mir Klarheit zuteil geworden: Diese Empathie des Apostels soll auch in meinem Herzen Raum finden, weil sie ein Ausdruck der Liebe Jesu gegenüber den Juden darstellt, die Jesus nicht als Messias angenommen haben. Es ist dieses apostolische Vorbild einer geistgewirkten Herzensprägung, die das Verhältnis der Gemeinde Jesu zu Israel bestimmen sollte. Da Paulus gleichzeitig zum ‚Apostel für die Heidenvölker’ durch Christus berufen wurde (Galater 2,9), sind auch die in Israel lebenden Palästinenser, Drusen usw. in die Perspektive der Liebe Gottes einbezogen, auch wenn ihr Weg von dem Israels zu unterscheiden ist.

Es ist meine feste Überzeugung, dass es im Heiligen Land keinen Frieden geben kann, wenn die Herzen nicht verändert werden. Dazu braucht es allerdings die Annahme des Evangeliums auf beiden Seiten und vor allem seine Verkündigung in Wort und Tat (Römer 10,14). Es gibt viele Aussagen in der Heiligen Schrift, die belegen, dass Gott mit Israel einen ganz besonderen Weg zu gehen beabsichtigt: Die Landverheißung gilt ungebrochen, weil der Abrahamsbund (1. Mose 12) niemals zurückgenommen wurde. Daher sehe ich in der Staatsgründung Israels eine Fortsetzung dieser Bundesordnung.

Am Ende von Römer 11 führt Paulus aus, dass die mehrheitliche Verstockung Israels so lange andauern wird, bis die Vollzahl der Heiden zum Glauben an das Evangelium gelangt ist. Danach wird ganz Israel gerettet werden (Römer 11,25ff). An diesen Ausführungen wird deutlich, dass die Wegführung Israels mit der weltweiten Mission unter den Völkern unmittelbar verbunden ist. – Ein besonderes Herzensanliegen ist mir in diesem Zusammenhang die Gemeinschaft mit den messianischen Juden in unserer Mitte.

Sie werden häufig von ihren orthodoxen jüdischen Brüdern abgelehnt und auch von maßgeblichen Vertretern der Kirchen nicht willkommen geheißen. An dieser Stelle wünsche ich mir eine herzliche Annahmeund Unterstützungshaltung in unseren Kirchen, wie sie in Epheser 2,14 zum Ausdruck kommt. – Wenn ich also sagen sollte, warum ich dem Staat Israel mit Empathie gegenüberstehe, dann liegt der Grund dafür in der heilsgeschichtlichen Perspektive, die vom Licht der göttlichen Selbstoffenbarung her das Israel der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umschließt. Diese zugegebenermaßen sehr persönliche Sicht auf Israel beschreibt den in mir gewachsenen Weg, mein ‚Copyright’ zu entrichten. Gleichzeitig engagiere ich mich ehrenamtlich im CFFI (Christliches Forum für Israel), um dieser Beziehung auch praktischen Ausdruck zu verleihen.

Medienarbeit / Presse