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| Carmen Matussek, Tübingen

Die bessere Erklärung

Die Existenz des jüdischen Volkes bezeugt die Existenz Gottes. Deshalb richtet sich der Hass gegen dieses Volk und seine Verleumdung im Kern gegen den Gott, der auch der Gott der Geschichte ist.

Antisemitismus ist der Kampf gegen den Gott Abrahams, der der Gott der Geschichte ist, sagt Prof. David Patterson, der in seinem Vortrag über „Holocaustleugnung und die Ursprünge des Antisemitismus“ auf einer internationalen Konferenz an der Indiana University in Bloomington unbeirrt Klartext redet, während viele seiner Kollegen mit verschränkten Armen dasitzen und ihre Gesichter die ganze Bandbreite von tolerantem Unverständnis bis Mitleid widerspiegeln: Gott kann Gegenstand akademischer Diskussionen sein, aber doch nicht Grundlage einer wissenschaftlichen Definition!

Und während viele im Holocaust eine willkommene Bestätigung dafür sehen, dass es diesen liebenden Gott der Juden nicht geben kann, sieht Patterson darin einen Beweis für dessen Existenz. Denn der Holocaust war die Konsequenz eines grossen Vernichtungsfeldzuges des aufgeklärten Menschen gegen Gott.

In seinem Buch „Wrestling with the Angel“ beschreibt Patterson, wie sich die einzelnen Merkmale der systematischen Vernichtung jüdischen Lebens aus der Offensive gegen den Namen Gottes, gegen HaShem, ergeben haben. Er beginnt mit der Bedeutung des Namens einer Person, der nach jüdischer Tradition mehr ist als nur eine von den Eltern erdachte Bezeichnung für einen weiteren unter sieben Milliarden Menschen.

Vielmehr ist der Name ein von Gott inspirierter Teil der Person, ein Teil seiner Seele. Dieser Teil wurde den Juden in Auschwitz genommen, und zwar auch denen, die überlebt haben. „Wenn die Nummer den Namen ersetzt, wird damit nicht nur ein Wort verdrängt, sondern gleichzeitig die Heiligkeit und die Menschlichkeit, die mit diesem Wort verbunden ist.

Die Nummer auf den Körper zu schreiben – nein, sie in den Körper zu treiben, unter die Haut, unauslöschlich in das Innere des Körpers –, ist der erste Schritt dazu, den Körper von seiner Seele zu entleeren, die das göttliche Abbild des einen Namens ist, von HaShem.“ Immer wieder wurde die Frage gestellt, wie der Holocaust nach der Aufklärung in einer hoch entwickelten, zivilisierten Gesellschaft hatte stattfinden können, nachdem er von gebildeten Menschen erdacht und beschlossen worden war. Für David Patterson liegt die Antwort in der Natur der Sache:

Der Holocaust war nicht trotz, sondern wegen der Aufklärung möglich.

In der Moderne und Postmoderne wird das Ziel verfolgt, das Denken – das im Sinne Descartes’ mit Sein gleichgesetzt wird – von allem Göttlichen und Absoluten zu reinigen. So verkommt der Mensch zum Zugehörigen einer Spezies unter vielen anderen. Der Einzelne ist dann nicht mehr ein einzigartiges Geschöpf Gottes, sondern ein evolutionäres Zufallsprodukt ohne besonderen Wert.

In diesem Bild stören die Juden als Zeugen des göttlichen Heilsplans, als Träger der Verheissungen, Bewahrer des Gesetzes und Licht unter den Nationen.

„Jegliche Hinwendung zum Gott Moses und seinen Geboten wird nicht nur als abergläubisch, sondern als gefährlich betrachtet, denn, so die Vermutung, mit der Schrift könne man alle möglichen Verbrechen rechtfertigen, die vor dem Hohen Gericht der Vernunft nicht zu rechtfertigen sind.“

Dabei waren die größten Massenmörder des 20. Jahrhunderts mitnichten Anhänger des einen Gottes: „Stalin, Hitler und Mao (...) kamen nicht von ungefähr. Durchtränkt von bestimmten Weltanschauungen und Menschenbildern entsprangen sie dem Prozess, Gott aus dem Bild wegzudenken, einem Prozess, der auf die europäische Aufklärung zurückzuführen ist.“

Es sei kein Zufall, so wird Rabbi Jonathan Sacks zitiert, dass die grossen Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts – Voltaire, Kant, Hegel, Schopenhauer und Nietzsche – das Judentum immer wieder scharf verurteilt hätten. Es widersprach ihrer gottfernen Weltanschauung, der Abschaffung absoluter Werte.

Patterson zeigt anhand vieler Beispiele, wie diese Philosophien den Weg zur Vernichtung jüdischen Lebens bereiteten. Die Nazis haben mit der speziellen Art und Weise, wie sie die Juden verfolgt und ermordet haben, göttliche Attribute angegriffen, indem sie systematisch den Namen, die Seele, den Glauben, die Nächstenliebe, das Leben und sogar das Sterben entheiligt haben. Unweigerlich haben sie damit auch in sich selbst das Heilige getötet.

„Die Nazis waren unfähig, sich zu schämen, und mit Stolz begingen sie ihre Grausamkeiten in der Öffentlichkeit. Darin verbindet sich ihr Angriff gegen das Heilige im Menschen mit der Schändung ihrer eigenen Menschlichkeit.“ Zunächst richtete sich die nationalsozialistische Zerstörungswut gegen Gebäude und rituelle Gegenstände. Bekannt sind die Bilder von brennenden Synagogen, von orthodoxen Juden, denen man auf offener Strasse den Bart und die Schläfenlocken abschnitt, von geschändeten Thorarollen und von Gebetsschals, mit denen jüdische Häftlinge später die Fussböden reinigen mussten.

Gott sollte schliesslich mit all seinen Treueerweisen, mit seinem Gesetz und seinem Volk aus dem Deutschen Reich verschwinden. Das „Wegdenken“ Gottes begann, praktisch zu werden, mit Auswirkungen bis in die Details zwischenmenschlicher Beziehungen. «Gott wird nicht nur als Gesetzgeber und Erlöser bedeutungslos, sondern auch als Lehrer und Vater. Wenn wir aber die Vaterschaft Gottes verlieren, verlieren wir auch die Bruderschaft der Menschen untereinander.»

Beziehungen bis zur Unkenntlichkeit zu zerstören und Menschen voneinander und von Gott zu isolieren, war fester Bestandteil der Todesmaschinerie. «Wenn bei der Ankunft in Birkenau die Mütter nach links und ihre Kinder nach rechts geschickt wurden, wurde damit nicht nur ein Transport in zwei Gruppen geteilt, von denen eine zum Sterben verurteilt war und die andere noch nicht; vielmehr wurde der Bund selbst in Stücke gehauen und eine Wunde in das Herz der Schöpfung gerissen.»

Geschichten, die nur schwer zu lesen und noch schwerer schriftlich wiederzugeben sind, zeugen von der unendlichen Grausamkeit, mit der Eltern dazu gezwungen wurden, ihre Kinder nicht nur sterben zu sehen, sondern sie selbst zu töten. Auch und gerade in dem Menschen, der noch lebte, starb so die Menschlichkeit, die Seele, das Gewissen, das Gefühl für den eigenen Wert und den Wert des Lebens, der Glaube an Gott. Gott selbst sollte sterben, und mit ihm die Offenbarung des göttlichen Wesens im Menschen – der Mensch, der im Bilde Gottes geschaffen ist, und das Volk, aus dem das Heil für alle Menschen kommt.

Die genannte «Bedeutungslosigkeit» Gottes entspringt den zentralen Grundsätzen der aufgeklärten Denker, in deren postmodernen Auswüchsen letztlich alles in Frage gestellt wird und seine Bedeutung verliert. Während die Modernisten die Zusammengehörigkeit von Wort und Bedeutung noch als problematisch bezeichnet hätten, so Patterson, seien die Postmodernisten dazu übergegangen, diese Verbindung gänzlich zu leugnen. Selbst die postmoderne Holocaustforschung werde zunehmend bedeutungsleer, gar «judenrein». Denn die Juden werden im Zuge dieser Forschung zu einer Opfergruppe unter vielen, die kaum noch werterachtet wird, beim Namen genannt zu werden, genauso wie der Holocaust als ein Völkermord unter vielen behandelt wird. So wird den Juden bis heute ihr Name und ihre Geschichte streitig gemacht.

Deswegen liegt es auch in der Verantwortung der heutigen Generationen, die Geschichten zu hören und die Namen nicht zu vergessen. Diejenigen Überlebenden, die in den Jahrzehnten nach dem Holocaust über ihre traumatischen Erlebnisse sprechen wollten, fanden meist niemanden, der ihnen zuhörte. Sie sprachen, aber man glaubte ihnen nicht. Also schwiegen sie. Sie blieben isoliert. David Patterson stellt die Frage an seine Leser: «Sollen auch wir uns weigern, zuzuhören und diesen Zeugen damit ihre Befreiung verweigern? (...) Es ist nicht so, dass man nicht zuhören kann und nicht fähig ist zu glauben; viel häufiger ist es so, dass man nicht glauben will und sich fürchtet, zuzuhören. (...)

Wir, die wir ihre Worte vernehmen, haben auch Teil an ihrer Befreiung. Wenn wir unsere Ohren verschliessen, verschliessen wir ihnen auch den Weg zurück ins Leben.» Für Juden nach dem Holocaust sei es existenziell notwendig, dem Wort seine Bedeutung wieder zuzuführen. Die Frage, die der Engel des Herrn Jakob bei seinem Kampf am Jabbok gestellt hat, war: «Wie lautet dein Name?» Das Ergebnis dieses Kampfes war ein neuer Name und gleichzeitig ein Segen für die ganze Welt: Israel. David Patterson ermutigt dazu, den Kampf um den Namen und den Segen Israels nicht aufzugeben.

Info:

Prof. David Patterson hat im Ackerman Center for Holocaust Studies an der University of Texas in Dallas den Hillel A. Feinberg Lehrstuhl für Holocauststudien inne. Er ist Herausgeber und Autor zahlreicher Bücher und Fachartikel über Philosophie, Literatur, Judaistik und Pädagogik. Mit dem Holocaust hat er sich unter anderem in seinem Buch «Wrestling with the Angel: Toward a Jewish Understanding of the Nazi Assault on the Name», Paragon House Publishers Verlag (ISBN-13: 978-1-55778- 845-0), auseinandergesetzt. David Patterson hat Bücher von Dostojewski, Turgenev und Tolstoi aus dem Russischen ins Englische übersetzt

Prof. David Patterson
Prof. David Patterson<br />Foto: © utdallas.edu
Medienarbeit / Presse