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| Heinz Reuss, TOS Dienst Deutschland e.V.

„Wir waren keine unschuldige Stadt!“

Ein Bericht von Heinz Reuss, TOS Dienste Deutschland e.V., zum Marsch des Lebens in Dresden

„Diese Stadt hat Schuld in der Zeit des Nationalsozialismus auf sich geladen.“ Das betonte Bürgermeister Winfried Lehmann, der auch Grüße von Oberbürgermeisterin Helma Orosz ausrichtete, in seinem Grußwort am 27. Januar während des Marsch-des-Lebens- Gedenkgottesdienstes in der Dresdner Kreuzkirche mit vielen Beispielen und traf damit das Anliegen des Marsches und Gottesdienstes auf den Punkt. Die Göhle-Werke, in denen Dresdner Juden Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie hatten leisten müssen, stehen für viele Orte des NS-Unrechts in Dresden: acht Außenlager des KZ Flossenbürg, wo vorrangig Juden Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie leisten mussten, das „Judenlager“ am Hellerberg, die Luftkriegssschule und die NAPOLA in Klotzsche, die SS-Mullahschule, das Babylager Kiesgrube und weitere. Von der systematischen Entrechtung, Entwürdigung, Enteignung und Ausbeutung, die der geplanten Vernichtung voranging, nicht zu schweigen.

Etwa über 300 Teilnehmer waren zuvor von den ehemaligen Göhle-Werken in der Riesaer Straße zum einstigen Deportationsbahnhof an der Eisenbahnstraße gelaufen, von dem aus die meisten Dresdner Juden in das Ghetto von Riga gebracht und die bis Februar 1945 noch als Zwangsarbeiter in der Stadt verbliebenen Juden zur Vernichtung nach Auschwitz transportiert wurden. Weiter ging die Marschroute unter sicherem Geleit der Dresdner Polizei über die Augustusbrücke, das Georgentor und die Schlossstraße zur Kreuzkirche am Altmarkt. Dort begrüßten Kreuzkirchenpfarrer Holger Milkau und sein Kollege Michael Schubert die inzwischen über 500 Teilnehmer zu einen Buß- und Gedenkgottesdienst. Michael Schubert hatte zusammen mit dem Vorsitzenden der Sächsischen Israelfreunde e.V., dem Dresdner Stadtrat Lothar Klein, und dem Gemeindeältesten der Dresdner Ev. Methodistengemeinde „Emmaus“, Dr. Thomas Klinke, unterstützt durch das Pastorenehepaar Stefan und Dorothee Haas der TOS-Gemeinde Leipzig sowie einer Gruppe von Christen aus ganz Sachsen, die Verantwortung für die Vorbereitung des Marsches des Lebens für Dresden getragen.

Der persönliche Blick auf die wenig belichtete Täterseite der Dresdner Stadtgeschichte stand dann auch im Mittelpunkt des Gottesdienstes. Der Veranstalter des Marsches, Lothar Klein, machte in seiner historischen Übersicht zur Judenverfolgung während der NS-Diktatur in Dresden deutlich, dass „der 13. Februar 1945 (der Tag der Zerstörung Dresdens) nicht ohne den 9. November 1938“ gedacht werden dürfe. Die Zerstörung der Stadt habe mit der Zerstörung der Semper- Synagoge ihren Anfang genommen. Seinen Ausführungen folgte das Interview mit der Dresdner Holocaustüberlebenden Brigitte Rothert als Tondokument. der Dresdner Pfarrer i.R. Fritz Günther erzählte von den Versöhnungswegen durch Osteuropa und dem Warten der Überlebenden darauf, dass sich Deutsche ihnen gegenüber ihrer Geschichte stellen. Die Dresdner Diakonissenschwester Hildegart Schulze erzählte von ihren Eltern, die als überzeugte Nazis in der Stadt gelebt und gewirkt haben, ihre Mutter als BDM-Führerin und ihr Vater als Lehrer an der NAPOLA, wo die nationalsozialistischen Nachwuchseliten ausgebildet worden sind, wozu auch die ideologischen Grundlagen des Holocaust gehörten. Ihr Vater sei später bei Stalingrad gefallen. Ihre Mutter, sie selbst und ihre Geschwister haben nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur zum Glauben an Jesus Christus gefunden.

Seitdem sei ihr der Dienst der Versöhnung mit dem jüdischen Volk ein besonderes Anliegen. Eine Frau aus Süddeutschland berichtete von ihrer Mutter, die den 13. Februar 1945 in Dresden miterlebt habe. Sie sei Zeit ihres Lebens nicht aus ihrer Opferrolle herausgekommen und habe damit viel Unfrieden in der Familie bewirkt. Die Problematik des Schweigens in den Familien über die NS-Schuld und der. daraus resultierenden Opferrolle griff Marsch-des- Lebens-Initiator Jobst Bittner in seiner Rede auf und rief dazu auf, „Verleugnungssysteme“ in den Familien und in der Gesellschaft zu überwinden. Gerade Kirchen und Gemeinden hätten heute die Verantwortung, öffentlich gegen Hass und Antisemitismus Zeichen zu setzen.

Mehrere Christen der Ev. Methodistengemeinde „Emmaus“ mit ihrem Pastor Dr. Werner Phillip sprachen die Fürbittgebete. Die musikalischen Beiträge wurden von Kreuzorganist Holger Gehring und der Band der TOS-Gemeinde Leipzig, verstärkt durch die Leiterin der Band „Beer Sheva“ der TOSGemeinde Tübingen, Gudula Kasch, geleistet. Ein Tanzteam der Leipziger Gemeinde setzte unter dem Lied „Um Zions willen will ich nicht schweigen“ das Thema der „Decke des Schweigens“ über die Verstrickung der Vorfahren in die Judenverfolgung sowie heilende Wirkung des Durchbrechens des Schweigens auf beeindruckende Weise choreografisch um. Zum Abschluss des Gedenkgottesdienstes in der Kreuzkirche sprach der Dresdner Pfarrer Michael Schubert ein Bußgebet, in dem er neben dem Unrecht der Nazizeit auch die Verstrickung und das Schweigen der Kirche zum Holocaust, zum latenten Antisemitismus und zur Israelfeindschaft in der Zeit der DDR im Gebet vor Gott brachte. Dieses Bußgebet, das hier veröffentlicht wird, darf als Beispiel für weitere geplante Märsche des Lebens in Deutschland dienen.

Erfreulich war auch, dass die BILD Dresden, die Dresdner Neuesten Nachrichten und der Onlinedienst MOPO24 positiv über den Marsch des Lebens Dresden 2015 berichtet haben. Bemerkenswert war, dass sich am Tag nach dem Marsch des Lebens in Dresden der Vorstand des PEGIDA-Vereins auflöste und alle Demonstrationen abgesagt wurden. Eine besondere Freude war für viele Teilnehmer, dass am 13. Februar, dem 70. Jahrestag der Zerstörung Dresdens durch britische und amerikanische Bomber erstmals seit mehreren Jahren keine Demonstration von Rechtsextremisten stattfand, dafür aber ein beeindruckendes Gedenken mit Bundespräsident Joachim Gauck in der Frauenkirche, der in seiner Gedenkrede ebenfalls mit vielen Beispielen belegte, dass die Stadt nicht nur Opfer war und betonte, was in den vergangenen 70 Jahren an Versöhnung geschehen ist.

Bußgebet für Dresden im Gedenkgottesdienst zum Abschuss des Marsches des Lebens in der Dresdner Kreuzkirche

von Pfarrer Michael Schubert

Herr, lebendiger, ewiger Gott, Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, Gott Israels und Gott und Vater aller Menschen und Nationen, Schöpfer des Himmels und der Erde, der sichtbaren und der unsichtbaren Welt, wir kommen zu dir mit unserem Gebet und wir stehen jetzt vor dir als Betroffene inmitten eines Volkes von Betroffenen. Wir stehen vor dir als Menschen einer betroffenen Stadt – einer Stadt, die sich oft als Opfer sieht und dabei meist gar nicht wahrnimmt, dass sie davor schon selbst Täter war. Wir stehen vor dir als Menschen verschiedener Generationen, die von den schrecklichen und grausamen Dimensionen des Holocaust und des Krieges betroffen waren und sind: als Täter, als Opfer oder als beides, als Söhne und Töchter oder Enkel von Tätern oder Opfern, als solche, die dazu geschwiegen haben und als solche, die noch immer schweigen, als solche, die lange nichts gewusst haben und als solche, die immer noch nicht wissen, wie sie durch ihre Blutsbande und ihre Familiengeschichten verstrickt sind in negative Gedanken und Gefühle, in negative Haltungen und negatives Reden, in negatives Handeln und Tun.

Herr, unser Gott, wir klagen dir unsere große Schuld und unsere Not, unsere ganz persönliche und die unserer Stadt und unseres Landes, wir klagen dir die Zerrissenheit unserer Stadt, wir klagen dir unsere eigene innere Zerrissenheit; wir klagen dir unsere Zerrissenheit in PEGIDA-Befürworter und PEGIDA-Gegner, in Linke und Rechte, in Gläubige und Ungläubige, in Judenfreunde und Judenhasser, in Wache und Schlafende, in Gutgläubige und Skeptiker, in Hoffnungsvolle und Deprimierte, in Vorwärtsgehende und Zurückweichende. Wir klagen dir unser Unverständnis und unseren Hass, unser anklagendes Reden und unser verschämtes Schweigen. Wir klagen dir unsere ganz persönliche innere und äußere Not. In tiefer Reue und Beschämung treten wir vor dich, den allmächtigen und barmherzigen Gott und bekennen uns zu der großen Schuld und dem schweren Unrecht, das wir an dir und deinem Volk über Jahrhunderte hinweg hier in unserem Land und auch hier in dieser unserer Stadt begangen haben.

Wir bekennen, dass wir und unsere christlichen Vorfahren unserem älteren Bruder Israel oft mit Vorurteilen und Feindschaft begegnet sind, statt die zu lieben, die Gott in Seiner Liebe erwählte. Wir Christen haben Juden als Gottesmörder diffamiert. Bis heute hält sich die falsche Lehre, dass Gott die Juden verworfen habe und uns Christen an ihrer statt erwählt. Juden wurden als Brunnenvergifter und Ritualmörder verunglimpft, entehrt und entrechtet, verfolgt und geächtet – Vater vergib!

Wir bekennen Dir als Lutheraner besonders die Schmähungen und die Verurteilung der Juden durch den Reformator Martin Luther und unsere Kirche – Vater, vergib! Wir bekennen Dir die Verfälschung des Evangeliums unter der Fahne des Hakenkreuzes. Wir haben Jesus als Juden aus unseren Kirchen vertrieben und versucht, jüdischen Einfluss in der Bibel und im kirchlichen Leben zu beseitigen. Wir haben dein auserwähltes Volk missachtet und seiner Vernichtung nicht widerstanden. Wir haben geschwiegen, wo wir hätten reden sollen und weggeschaut, wo wir hätten handeln sollen – Vater vergib!

Wir bekennen, dass unsere Familien zu Ausgrenzung, Deportationen und Vernichtung von jüdischen Mitbürgern meist geschwiegen und sie zum großen Teil befürwortet haben – Vater vergib!

Wir bekennen, dass wir uns als Deutsche über Menschen anderer Rassen und Völker erhoben und uns als Herrenrasse bezeichnet haben, die den Juden und anderen Völkern, insbesondere den slawischen, überlegen ist – Vater vergib!

Wir beugen uns unter die Art und Weise des Umgangs mit Juden und dem Volk Israel in der DDR. Der Staat Israel wurde als Aggressor bezeichnet. Juden wurden oft weiter ausgegrenzt, isoliert und schlecht gemacht. Ihr Leiden wurde kaum benannt und wahrgenommen – Vater vergib!

Wir beugen uns unter die unsäglichen Qualen und den Tod tausender Juden, Häftlinge und Zwangsarbeiter auch hier in unserer Stadt Dresden. Wir beklagen das Leid, das Kriegsgefangenen aus vielen Nationen hier bei uns angetan wurde - Vater vergib! Wir beugen uns wegen der Maschinerie des Todes, des Hasses und der Menschenverachtung, die von unserer Stadt aus in die Welt hinausging. Wir beugen uns unter die Ausbildung von Bomberpiloten in der Luftkriegsschule und von Wehrmachtsoffizieren hier in Dresden, unter die Existenz der nationalsozialistischen Kaderschmiede NAPOLA und der SS-Mullahschule in unserer Stadt – Vater vergib!

Wir klagen das Leid der Schwachen und Behinderten, die im so genannten „Euthanasie“- Programm vor den Toren unserer Stadt in Pirna-Sonnenstein hingerichtet wurden. Das spätere systematische Töten von Juden wurde hier erprobt und die Fahrpläne dazu wurden an Schreibtischen in unserer Stadt geschrieben – Vater vergib!

Wir klagen dir das Leid der Kinder, die hier in Dresden zuhause waren und ihr Zuhause und ihre Zukunft verloren haben. Kinder aus jüdischen Familien, Einwohner dieser Stadt, die deportiert und umgebracht wurden - Vater vergib! Wir beklagen das Leiden und Sterben hunderter neugeborener Kinder von Zwangsarbeiterinnen, die hier in unserer Stadt geboren wurden und dann ihren Müttern entrissen, systematisch vernachlässigt und so schon als Säuglinge zu Tode gebracht wurden – Vater vergib!

Wir beugen uns als Täter und als Nachkommen der deutschen Tätergeneration unter unsere Schuld, unsere große Schuld, unsere übergroße Schuld. Darum tun wir Buße und flehen zu dir, dem allmächtigen Gott: Sei uns gnädig! Vergib uns, was wir und unsere Vorfahren deinem erwählten Eigentumsvolk, deinem geliebten Augapfel Israel und anderen Menschen angetan haben. Vergib uns, unseren Gemeinden und unserer Kirche, unserer Stadt und unserem Land alle Verirrung und jede Form von Götzendienst. Befreie uns von Altlasten, die auf uns, unserer Kirche, unserer Stadt und unserem Land liegen und beschenke uns mit einem neuen Wirken deines Heiligen Geistes! Verwandle allen Fluch der Vergangenheit in Segen! Zur Ehre deines Namens und zum Kommen deines Reiches, auch bei uns hier in Sachsen und in Dresden!

Wir bekennen gemeinsam unsere Schuld und beten mit den Worten des 51. Psalms (EG 727):
Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit. Wasche mich rein von meiner Missetat, und reinige mich von meiner Sünde; denn ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde ist immer vor mir. An dir allein habe ich gesündigt und übel vor dir getan, auf dass du Recht behaltest in deinen Worten und rein dastehst, wenn du richtest. Siehe, dir gefällt Wahrheit, die im Verborgenen liegt, und im Geheimen tust du mir Weisheit kund. Lass mich hören Freude und Wonne, dass die Gebeine fröhlich werden, die du zerschlagen hast. Verbirg dein Antlitz vor meinen Sünden, und tilge alle meine Missetat.

Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen Heiligen Geist nicht von mir. Erfreue mich wieder mit deiner Hilfe, und mit einem willigen Geist rüste mich aus. Errette mich von Blutschuld, Gott, der du mein Gott und Heiland bist, dass meine Zunge deine Gerechtigkeit rühme. Tu wohl an Zion nach deiner Gnade, baue die Mauern zu Jerusalem. Amen.

Marsch durch die historische Altstadt zum Altmarkt
Marsch durch die historische Altstadt zum Altmarkt
Gottesdienstteilnehmer
Gottesdienstteilnehmer<br /><br />Mehr Bilder vom Marsch des Lebens sind in der Ausgabe 1|2015 abgedruckt.
Versöhnungsarbeit